Mittwoch, 23. April 2014

Jörg Kachelmann (2014)



Jörg Kachelmann (2014)

Der Saft der Zitrone weiß nichts von der Hand, die presst

Tarzan nichts vom Stricken

Ein Schneider nichts vom schneiden

Und der Chirurg denkt an den Zirkus,

während er deine 3 Meter Darm in den Händen wiegt.

Niemand weiß irgendetwas.

Wenn ich dir etwas erklären will nutze ich Gedanken

Die ich irgendwo anders herhabe

Vielleicht mit einem Geschmäckle des aktuellen Wetters

Hätte man mir irgendwas anderes erzählt

Würde ich dir jetzt was anderes erzählen.

Ich habe für Diskussionsrunden im TV nicht viel übrig

Sie verursachen mir Kopfschmerzen

Ne gute Show ist Beifallgarantie

5 minuten später dann Applaus für die Gegenseite

Leise Töne eignen sich nur fürs Geschriebene,

und das liest keine Sau.

Wir haben alle die Kraft in uns,

einen neuen Sinatra oder Jesus oder Hitler zu erschaffen

und den unscheinbaren Kerl auf der Party,

schubst man zur Seite, weil er die Sicht auf die Weiber verdeckt

und selbst wenn er die besseren Gags auf Lager hätte?

Who cares?

Auch Ich weiß nichts, „das ist alles nur geklaut“

Das macht es mir schwer

Jeder ernst dreinblickenden Gestalt mit bedeutsamem Gestus

Überhaupt etwas abzukaufen

Ich kann niemanden ernst nehmen

Nicht mal den Wettermann, ausser er bekommt Brechreiz

Deshalb ist jeder Witz besser als ein Gebet

Jeder Hüftschwung besser als eine Anleitung zum Tanz

Jeder Messerkampf besser als Kabarett.

Die Dinge müssen getan werden

Aber das muss ich euch nicht sagen (siehe oben)

Es kotzt mich an, Bücher zu lesen und meine eigenen Worte darin zu entdecken

Denn das glaubt ihr mir nicht, dass ich da selbst drauf gekommen bin

wenn ihr mein Bücherregal durchsucht.

Werft lieber einen Blick in meinen Kühlschrank

Da könnt ihr mir vielleicht noch ein Bier mitbringen

Oder eine angetrocknete Leberpastete.

Ich werde nach draussen gehen

Wo die Federn gespannt werden

Ein gentleman schweigt, aber niest

Anders gesagt, tut was getan werden muss

Lest nicht zuviel und vor allem haltet einfach mal öfter die Fresse.

Oder wartet mal auf morgen,

dann erzähl ich euch das Gegenteil.

Tagebuch eines Tagediebes

TAGEBUCH EINES TAGEDIEBES (2014)

1.     November 2012  

Der Grund warum ich dies schreibe ist, um eine klare Grenze zu ziehen. Meine Position werde ich euch in einigen Tagen noch klarer machen können, aber diese Zeit werde ich brauchen, bis sich der Rost von meinen Gedanken und Worten gelöst hat. Fürs erste muss das reichen. Wenn euch das zu lange dauert, legt das Ding hier weg, wo auch immer ihr es her habt, benutzt die Rückseite für nen Einkaufszettel oder verfüttert es eurem Hamster, falls er Vegetarier ist und damit etwas anfangen kann. Mein Name ist Vincent Frey, ich bin 28 Jahre alt, mittelgroß mit athletischer Figur und einem kleinen Bauchansatz (der vom Saufen kommt). Ich habe grün-blau-graue Augen, hohe Wangenknochen und kurzgeschorene Haare mit Geheimratsecken, die, umso länger sie werden, eine rötliche Färbung annehmen. Mein Geld verdiente ich bis gestern als kaufmännischer Angestellter eines Unternehmens, das große Produktionsanlagen herstellt. Ich bin weder Vegetarier noch habe ich einen Hamster. Einen kleinen schwarzen Kater namens Charly, mit dem ich eine kleine schicke Wohnung teile, das ja. Ich würde dieser Beschreibung gerne hinzufügen, dass ich Karriere machen will, denn ich denke, das wäre drin. Doch dann wäre die ganze Geschichte relativ unspannend und ich würde hier einen großen Punkt machen. Aber ganz so einfach ist es nicht. Was ganz wichtig ist, und das taucht in keinem Curriculum Vitae auf: Ich habe einen Schrei gehört. Schmidtchen, der Tür an Tür mit mir wohnte, verstarb vor exakt 2 Tagen und… Moment…13 Minuten an einem Herzinfarkt, kurz nach seinem 50. Geburtstag. Ich habe ihm noch gratuliert und eine Flasche Schampus vorbeigebracht, die ich am gleichen Tag aus einer Tankstelle geklaut hatte. Das mache ich übrigens öfters, klauen, meine ich. Ich habe schon alles Mögliche geklaut. Das erste Mal mit 6 Jahren, als ich mit meinem Vater in Usedom war, ein kleines goldenes Vorhängeschloss, das gut in meine Jackentasche passte. Das nächste, woran ich mich erinnern kann, war ein bescheuerter Miniatursaurier aus Toys R’Us. Immer mal wieder irgendetwas. Auch Liebe war dabei. Pathetisch? OK, vielleicht eine weitere Macke von mir. Nicht dass ich es nötig gehabt hätte. Mein Vater hätte mir damals wie heute jeden Wunsch erfüllt und auch war ich nicht so hässlich, dass kein Mädchen nicht auch ohne Taschenspielertricks gerne das Bett mit mir geteilt hätte. Aber der Kick, versteht ihr. So fing das alles an. Aber ich drifte ab. Schmidtchen starb an einem Herzinfarkt, aber der Schrei, der durch die dünnen Wände kam (während ich gerade dabei war, meine zweite Flasche Rotwein herunterzuwürgen), ich sag euch, da war noch was anderes dabei. Ein hohles Geräusch, wie Luft, die man mit übertriebener Brutalität durch einen zusammengequetschten Gartenschlauch presst. Aber vielleicht kommen wir erst zu der Schraube. Am darauf folgenden Tag, also gestern, machte ich meine Tour durch die Werkstatt des Unternehmens, in dem ich arbeitete, auf dem Weg zu einem wichtigen Meeting im Geschäftsführerbereich, als mich ein Jürgen, einer der Anlagenmechaniker, abfing. „Vincent“, sagte er. „Ich habe ein Problem.“ „Ich habe dir gesagt, vergiss die Alte. Soll sie sich halt ficken lassen, bis sie platzt. Du bist zu sentimental.“ „Nein, die Fräsmaschine, komm mal kurz.“ Ich folgte ihm. Die Maschine ging fast bis zur Decke und besaß einen digitalen Monitor und allerhand blinkende LEDs.  Wert: 50T Öcken. Ich hatte sie für die Firma eingekauft, deshalb wusste ich das genau. Die Wahl war auf sie gefallen, da sie durch die automatisierte CNC-Programmierung in einer halben Stunde 2,74 mehr Aluminiumteile fräsen konnte  als bei der manuellen Bearbeitung durch einen Mechaniker und dabei 32,5% präziser war. Die errechnete Einsparung in 3 Jahren, bezogen auf den durchschnittlichen Stundensatz eines Mechanikers, lag bei knapp 60 T Euro. Doch keine Angst, wir haben deswegen keine Leute entlassen oder so. Das Ding war einfach scheiss effizient und die Mechaniker, die vorher ihren Schweiß ins Fräsen gesteckt hatten, hatten jetzt mehr Ressourcen für andere sinnlichen Tätigkeiten wie das Ausfüllen von Wettscheinen. „Da schau. Die ist einfach stehen geblieben.“ Er deutete auf ein blinkendes rotes Licht auf dem Monitor. Dort stand „Vibrationsfehler“. Er sah mich erwartungsvoll an. Ich legte meinen ausgestreckten Zeigefinger über den Mund und kniff die Augen zusammen. „Scheint ein Fehler mit der Vibration zu sein.“, fasste ich fachmännisch zusammen. Er nickte zufrieden. „Vincent. Die steht erst seit 2 Wochen hier und schon Probleme. Wir müssen bis Ende der Woche den Auftrag für Sator-Tech fertig kriegen. Dem Dr. Schneider brennt schon der Kittel. Als ob ich sonst keine Probleme hätte.“ „Vergiss sie.“, wiederholte ich. Er schnaufte. Er tat mir leid. Seine Frau hatte vor drei Wochen über Nacht all ihren Krempel gepackt und war zu ihrem Fitnesstrainer gezogen. Er kam nicht darüber weg. „Ne Idee was kaputt ist?“, fragte ich ihn. „Ja, denke schon.“. Er leuchtete mit einer Taschenlampe in Innere des Apparates. „Da, die Schraube hier. Total verrostet. Die haben einfach eine alte Schraube hier verbaut! Passt noch nicht mal richtig ins Gewinde. Siehst du wie sie absteht. Die Schrauben kriegst du in keinem Baumarkt. Bringt das ganze Programm durcheinander. Was ne Unverschämtheit. Du musst das sofort reklamieren. Wir müssen für Sator-Tech…“, „Jaja“, unterbrach ich ihn. „Mach ich.“. Ich klopfte ihm auf die Schultern. „Ruf mich an, wenn was ist. Du weißt schon…“. Er nickte und wurde still. Ich drehte mich um und beeilte mich, meinen Termin wahrzunehmen. Als ich später wieder auf Weg in mein Büro war, bekam ich das seltsamste aller Gefühle. All die Maschinen, die brummten und surrten oder einfach nur dastanden, wartend, bis irgendein nervöses Männchen sich daran zu schaffen machte. Sie wirkten plötzlich komplett verändert. Wie ein banales Wort, das man tagtäglich benutzt, einem jedoch, einige Mal hintereinander aufgesagt, skurril und fremd in den Ohren klingt. Ich blieb stehen und ließ den Blick schweifen. Dies war also die Kumulation jahrhundertlangen Strebens des menschlichen Geistes. Lebenszeit hunderter, tausender Menschen, angefangen von den alten genialen Beherrschern der Physik bis hin zu den leidenschaftlichsten Ingenieuren der letzten 20 Jahren. Und doch totes Material. Tote gleichgültige Moleküle, die sich in einem seelenlosen Tanz bewegten, bis eine kleine rostige Schraube alle Illusion platzen ließ. Ich bewegte mich durch Schluchten einer Stahlwüste, inmitten eines Friedhofs, der Gedanken frisst und sich weit über die Hallenwände dieser Werkstatt erstreckt. Es war ein Gefühl der unmittelbaren körperlichen Bedrohung, anders kann ich es nicht sagen. Jetzt habe ich aber wieder zu weit vorgegriffen. Ich hatte noch etwa 30 Minuten zu arbeiten und musste meinem Chef noch eine Aufstellung unserer Lieferanten vorlegen, außerdem wollte ich mich noch um Jürgens Schraube kümmern. Also versuchte ich diese merkwürdigen Gedanken zu unterdrücken und beschleunigte den Schritt. An meinem Schreibtisch hatte sich bereits wieder ein mittegroßer Stapel Post gesammelt. Ich fegte ihn gekonnt zur Seite und ging an die Liste. Grundlage dafür waren zwei Excel-Dateien. Ich dachte kurz nach und programmierte die Formel, die die Firmenbezeichnungen aus der einen Tabelle mit der Kreditorennummer aus der zweiten verknüpfen und in einer dritten ablegen würde. Es waren mehr als 1000 Datensätze. Ich versuchte die Formel beim ersten Datensatz und es funktionierte. Ein Mausklick an der richtigen Stelle und die Formel wurde für alle Datensätze übernommen. Alle Zeilen waren gefüllt. Vor vierzig Jahren hätte ich dafür bestimmt 2 Tage gebraucht. Aber das Ding war fertig, die reinste Zauberei. Ich starrte auf den Monitor und das Gefühl der Bedrohung kam wieder hoch, obwohl ich es diesmal an nichts festmachen konnte. Ich schickte die Auflistung per Email an meinen Chef und zog mir hastig meine Jacke an. Für die Schraube hatte ich keine Nerven mehr. Außer mir war nur noch meine Kollegin da, die um diese Uhrzeit wie immer Homeshopping machte und sich die Überstunden anrechnen ließ. Ich stellte mich vor Sie, gab ihr die Hand und wünschte ihr einen schönen Abend. Sie sah mich überrascht an. Verlegen zog ich die Hand zurück, selbst verwundert über meine Geste. Dann fuhr ich nach Hause, fütterte Charly und betrank mich. Irgendwann mitten in der Nacht, ich sollte in 3 Stunden wieder im Geschäft antanzen, fasste ich den Entschluss, meine Wohnung nicht mehr zu verlassen. Das war gestern und heute ist der erste Tag dieses Experimentes, das nichts Geringeres zum Ziel hat, als die Verknotungen in meinem Hirn zu lösen. Volles Risiko, Baby. Was auch immer das bedeuten soll. Zumindest wird mir mein Vater keinen Minisaurus dafür kaufen, so viel ist sicher.  


2.     November  
Klar, ich könnte in Urlaub gehen und die „Seele baumeln lassen“. Bullshit. Das einzige, was man dann macht, ist, sich für eine Weile vorzustellen, man hätte ein anderes, spannenderes Leben, aber eigentlich schleppt man die ganze bleierne Unzufriedenheit doch nur an nen anderen Ort und es dauert ne ganze Weile, bis sich das Karussell im Kopf langsamer dreht. Meist beschleunigt man dies mit sinnlosem Fotoknipsen und  Rumsaufen und bevor man es merkt, ist man auch schon wieder daheim. Mit unseren durchschnittlichen 3 Stunden Fernsehen oder Internet und dem Vollrausch am Wochenende. Sicher, das Ganze bringt ne Menge Spaß und Ablenkung, aber Ablenkung wovon eigentlich? Davor, dass wir nicht die Eier haben, uns wirklich mal Gedanken zu machen, behaupte ich jetzt einfach mal. Mann, wir haben alle die dumme Angewohnheit irgendwann ins Gras zu beißen, wisst ihr das eigentlich schon? Also, es ist nicht wo du bist. Versteht mich nicht falsch. Ich steh auf Urlaub und Fotoknipsen, aber irgendwas ist in meinem Kopf passiert, und das muss ich erst verstehen, bevor ich wieder mit Sombrero und glänzenden Augen am Flughafen stehe. Vielleicht liegt es daran, dass ich als 5-jähriger mal an die Heizung geknallt bin, oder dass ich zu wenig Backpfeifen in meinem Leben bekommen habe, aber genau das muss ich herausfinden. Ich werde daheim bleiben und nachdenken. Und weil ich ungeduldig bin und auch Angst habe, es mir anders zu überlegen, will ich auch nicht schlafen. Schlaf klaut Leben, hatte ein Typ an der Bar mir mal erzählt. Guter Spruch, aber kurz nach dieser göttlichen Erkenntnis ist er eingepennt und vom Stuhl gekippt. Wenn das alles funktionieren soll, brauche ich also einen Plan. In etwa einer halben Stunde wird Chako, ein Freund von mir, hier klingeln und hat hoffentlich alles im Gepäck, was ich ihm am Telefon durchgegeben habe. Unmittelbar danach habe ich es ausgeschalten. Die unwichtigeren Dinge abgezogen, handelt es sich um:
- 1 Kiste Rotwein
- 2 Flaschen Jameson Whiskey (schön mild und nicht zu teuer)
- 10 Dosen Bohnen mit Speck (Fertigkost, aber ebenfalls billig)
- Brot, Wurst, Käse
- ….Uch - Fitmacher –
- 7 Päckchen Pueblo Tabak (inkl. Filter und Papers)
Und zu guter Letzt: 20 Dosen Katzenfutter für meinen kleinen Charly, der in dieser Zeit mein einziger Ansprechpartner sein wird. Ich schätze, es wird so zirka eine Woche dauern, bis ich etwas herausgefunden habe oder mich erhängt habe. Kleiner Spaß. Aber viel länger darf es nicht dauern, da die Vorräte dann aufgebraucht sein werden und ich wohl oder übel doch wieder unter Menschen gehen muss, die mit ihren Gedanken, ihrem Suff oder beidem über mich herfallen und alles zunichtemachen.  

Es ist nun halb zehn Uhr abends und ich habe es mir mit Charly auf dem Schoss an meinem Schreibtisch gemütlich gemacht. Auf Chako war Verlass gewesen. Auch dass er keine Fragen stellt, nie, rechne ich ihm hoch an. Er hält mich wahrscheinlich eh für verrückt, seit  ich ihm mal erzählt hatte, dass Menschenfreund zu sein und Amok zu laufen sich im Grunde gegenseitig bedingt. Zeit, sich umzuschauen. Vor mir der Cabernet Souvignon aus Kalifornien, den ich in Reminiszenz an alte Tage (you know) vielleicht kost- aber nicht stilverächtend direkt aus der Flasche trinke, ein hässlicher Aschenbecher in Form eines Schwans, der Laptop und die weiße Wand vor mir. Wenn ich die Arme ausstrecke, kann ich den Rauputz berühren und mich ¨erden¨. Hier komme ich selbst mit dem Kopf nicht durch, auch mit Mühe, und das ist ein gutes Gefühl. Hausarrest also. Ich stellte mir vor, wie es Ai Wei Wei oder Aung San Suu Kyi wohl ergangen war oder den anderen armen Teufeln, mit den toten, erwartungsvollen Kameraaugen direkt hinterm Fenster, gutwollende, aber doch krebsartige Auswüchse des großen Haies, der lacht und lacht und sich die Zähne bleckt. Solange die Gutmenschen noch Hoffnung haben, es wird nicht weggeschaut, kann Michael Meyer es sich mit seinem dicken Wanst und seiner humanistischen Bildung zuhause vor dem Fernseher bequem machen und seinen gelangweilten Freunden, Kollegen und Liebhaberinnen von den neuesten Geschehnissen berichten. Und alle sind betroffen aber in gewisser Weise befriedigt und gehen mit gutem Gewissen zur Tagesordnung über. Das ist das Ventil, das den notwendigen Druck aus dem Kessel lässt und das System stillschweigend schützt. Dank moderner Medien weiß es zudem immer, woher der Wind gerade weht, und wo man vielleicht ein wenig die Stellschrauben zurückdrehen sollte, dass sich eben dieser wieder legt. Die wirklich großen Revolutionen, da bin ich mir sicher, werden in Zukunft nicht in Facebook und co geboren, sondern wieder in dunklen Kellern voller Verzweiflung, von hungrigen Menschen, und ich meine wirkliche Menschen, keine selbstverliebten Profilierer und Künstlerproleten, die sich die ganze Masche auf den Leib schneidern, um dann mit schicken Frisuren und Halstüchern flanieren zu gehen und insgeheim von nem knallroten Cadillac und Champagner in der Unterhose von Halle Berry träumen. Auf die Jungs ist kein Verlass, glaubt mir. Wenn die Sache losgeht, sitzen die gerade beim Friseur. Die Sache mit der Schraube geht mir nicht aus dem Sinn. Heißt es nicht, man hat ne Schraube locker, wenn...ja, wann eigentlich? Jeder sucht sich einen Archetypen heraus und stapft die altbekannten Wege ab. Das Portfolio ist groß: Wir haben den Rockstar, den unterschätzten Künstler, den notgeilen Vorstandsvorsitzenden, den Sportfreak, den lustigen Schwulen, den kleinen dicken Jungen, den alle einfach ¨nett¨ finden, und so weiter. Das schafft Orientierung und Sicherheit. Jeder weiß, was er zu machen hat. Als Gott oder Superalien from outta space dem Menschen den Instinkt nahm, wußte dieser auf einmal nicht mehr, was er zum Teufel überhaupt mit sich anfangen soll, bis der große Vorhang fällt. Ängstlich krallt er sich dann an irgendetwas, das schonmal funktioniert hat. Irgendwann gibt es vielleicht noch die ¨Katze¨, ein solcher leckt dann andauernd an sich herum und wackelt unkontrolliert mit dem Schwanz, oder was weiß ich. Sobald ein Archetyp von der Gesellschaft anerkannt wird, gilt alles als normal, solange er sich ans jeweilige Regelbuch hält, und mit Glück ist er dann sogar bei der nächsten Staffel DSDS dabei. Die angeblich Verrückten haben kein Regelwerk, sie weigern sich bewusst oder unbewusst und sind so nicht mehr greifbar. Das sind die mit der Schraube, und das schürt Verunsicherung. Die Katze, also die auf meinem Schoss, hat regelkonform angefangen zu schnurren. Wäre ich auch Katze würde ich mitschnurren. Aber leider bin ich gerade im Affenmodus, kratze mir den Sack und kippe mir noch einen ein.  


3.     November
Also, was ist zu tun? Ich weiß es auch nicht. Aber es gibt Ansätze und die sind alle gut. Wenns dich woanders hin treibt, dann mach nen klaren Cut und hau wirklich ab. Aber dann ohne Fotoapparat. Stürz dich in die Fluten ohne Schwimmflügel. Der Lacher über einen Witz an der Bar, den keiner mehr versteht, weil alle zu voll sind, ist auch ok, aber dann sei kein Arschloch und verpiss dich, bevor dir jemand umständlich die Pointe erklären will. Das ist heute mein dritter Tag ohne Schlaf. Die Fitmacher wirken, der Whiskey hält meine Laune aufrecht und das Whiskas die von Charly. Achtung, Wortspiel! Das ist auch so eine Sache. Sollte man das, mit Worten spielen? Jedes Wort ist ein Gedanke, sagt man. Es wäre viel gewonnen, wenn die Leute mehr ihrem Bauchgefühl trauen würden und sobald es ums Denken geht, das auch verdammt noch mal ernst nehmen. Wer im Garten nur ein bisschen rumkickert, wird nie das WM-Spiel entscheiden. Wasserspritzpistolen machen auch keinem Einbrecher mehr Angst, außer er ist ¨Katze¨. Unsere Wörter und Gedanken werden weichgespült, jeden Tag ein bisschen mehr, bis nur noch harmloses Geschwätz übrigbleibt oder Bücher von Ken Follett. Doch es gibt sie noch, die Zeilen, die einem das Blut zum Wallen bringen, so dass man sich alle Kleider vom Leib reissen will. Scharfe Geschosse aus kleinen Schlupfwinkeln. Bukowski wußte und konnte das, obwohl er auch unter Verdacht eines Archetypen steht. Aber es war sein eigener und damit ist er freigesprochen. Nicht nur den Göttern kommt das große Kotzen, wenn er wüßte, wofür er alles nach seinem Tod herhalten muss, angefangen von falsch zitierten Gedichten, die wie Werbeslogans die Zeit zwischen zwei Schnäpsen überbrücken, bis zu diesem Text hier. Er hat alles richtig und falsch gemacht und wurde zu groß, wenn auch anders als erwartet. Noch einer: Böke, und der lebt wenigstens noch. Auf einem Poetryslam in Mannheim, wo ich aus unerfindlichen Gründen vom Moderator als semiprofesioneller Vollprolet angekündigt wurde und dementsprechend den letzten oder vorletzten Platz machte, lernte ich einen jungen Türken kennen, der eine wirklich scharfe Zunge hatte und mich mit seinen halbapokalyptischen Texten von den Socken haute, so dass ich bestimmt ein Jahr lang bei Vollmond nicht mehr die Wohnung verließ. Und es gibt die, die nichts mit Lyrik am Hut haben, augenzwinkernde Thugrocker und Spielsüchtige oder den alten Ron Llave-inhalierenden Michael in seiner Cabana auf Puerto Rico, die einen Knaller nach dem anderen loslassen. Also: Hoffnung besteht, Freunde. Macht einfach mal den Fernseher aus. Das ist zwar nur die halbe Miete, aber zumindest lassen sich die fahlen Gesichter da draußen ein wenig besser ertragen.

4.     November
Alle kommenden Zeilen sind noch ungefüllt. Und das macht sich nicht von allein. Gutes Gefühl. Das Undankbare am Schreiben ist, dass es einen Leser erfordert, der sich auf deine Verrücktheiten einlässt, sonst verschwindet alles unbewertet und ruhmlos wie dein letzter Haufen Scheiße im Klo. Ein Straßenschläger hats einfacher, einen Treffer zu landen und meist hält die Wirkung auch länger an. Zu viele Autoren drängeln sich allzu gerne ums Geschehen herum und beobachten aus sicherer Entfernung, und selbst wenn man hin und wieder denkt, jetzt kommt gleich der große Punch, verfallen sie plötzlich in nichtssagende, meist selbstverliebte Betrügereien. Nur wenige steigen direkt in den Ring und gehen das Risiko eines Knockouts ein. Naja, der Erfolg gibt ihnen wohl Recht, oder? Aber ich hoffe dennoch, dass einige da draußen noch den Unterschied erkennen. Ich will das lieber nicht weiter vertiefen, sonst komm ich womöglich selbst noch auf die Idee, hier Schluss zu machen, vor die Tür zu gehen und mir bei der Baustelle gegenüber Streit zu suchen. Aber nun stecken wir hier gemeinsam fest und beschäftigen uns zur Abwechslung mal mit meiner Scheiße. Haha. Die letzten Tage habe ich sehr wenig geschrieben, was nicht heißt, dass ich untätig war. Ich habe viel nachgedacht, aber will euch mit den unwichtigen Einzelheiten verschonen. Mit dem Trinken halte ich mich etwas zurück, was nicht heißt, dass ich wenig trinke. Die letzten Monate hatte mir das Saufen eh keinen wirklichen Spaß mehr gemacht. Nein das stimmt nicht. Aber die Qualität verändert sich. Nicht mehr dieses „whoaa, da bin ich, heute Attacke!“ was mit 16 oder 20 noch so aufregend war und immer nur damit endete, dass man sich total blamierte, bei allen Frauen abblitzte und sich die Hosen und Schuhe vollkotzte. Ab ein paar Gläsern Whiskey kommt nun eher so eine angenehme Geschäftigkeit, was mir hilft, mich zu konzentrieren und das Lachen ein wenig herzlicher macht. Dann meinetwegen immer noch „Attacke“, aber irgendwie abgeklärter. Wie an Bord eines im Sturm gepeitschten Kutters, wenn jeder Handgriff und jeder Seemannsspruch sitzen muss, damit sich das Ding sicher über Wasser hält. Das klingt vielleicht wirklich nach heimlichem Alki, aber ich will damit eigentlich nur sagen, dass ich bewusster trinke und niemanden mehr damit beeindrucken muss. Was mache ich sonst noch? Viel Zeit widme ich Charly und ärgere ich ihn im Spaß, bis er sich mir mit einem aufgeregten Fauchen in die Arme krallt. Wenn er dann nach einer Weile die Lust verliert, packe ich ihn auf den Schoss und streichle ich ihn bis er anfängt zu dösen und alle Viere von sich streckt. Ich habe meine alte schwarze Gitarre wieder herausgeholt und spiele Songs, die mir gerade einfallen, meist auch nur irgendein wildes Geklimpere, das ich mit „aahhh“ und „ohhh“ begleite. Charly schnurrt dazu im Halbschlaf, denn Katzen schlafen auch nie wirklich, und sorgt so für die richtige Atmosphäre. Wenn ich dann anfange mich zu langweilen, lese ich in den paar Büchern, die ich mir aufgespart hatte, ohne zu wissen warum, oder mache ein paar Situps und Liegestütze. Gegen vier Uhr morgens beginnt die harte Zeit. Meine Gedanken fangen an, sich im Kreis zu drehen. Erinnerungen kommen hoch an die unwichtigsten Situationen, wie der Klang der Stimme eines Verkäufers beim Mediamarkt oder die Locke meines Chefs, die sein heftiges zigarettengeplagtes Schnaufen durch kleine Zuckungen untermalte. Eine ungemeine Erschöpfung überkommt mich und auch eine leise Angst. Meine Bewegungen werden langsamer und alles unendlich schwer, meine Arme, Beine, mein Kopf. Ich gehe auf und ab und atme mit Vorsatz schneller, um dagegen anzukämpfen. Ich kann mir vorstellen, dass sich so ein Todeskandidat in der Nacht vor seiner Hinrichtung fühlt. Der krampfhafte Willen, wach zu bleiben, um die letzten Stunden und Minuten zu nutzen und den eigenen Lebensweg zu rechtfertigen, und alles was das Hirn ausspuckt, ist sinnentleert und trauriger als Werbung für Monatsbinden. Ich starre auf den großen TV, dessen Anschluss im Keller ich vor knapp einer Woche gekappt habe und spüre die Zeit langsamer und langsamer werden. Der erste Tag, den ich nicht geschlafen habe, war ein Klacks, aber in den letzten beiden Nächten hielt dieser Zustand immer etwas länger an. Es ist wirklich kein Zuckerschlecken, aber ich koste es aus als Teil meines Experimentes. Zumindest eine Weile, bis ich merke, dass ich an eine Grenze komme, die ich mich nicht zu überschreiten wage. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Fitmacher und Schallplatten auf den Plan kommen, die mich am kleinen Finger aus dem grauenvoll schönen und dunklen Loch herausziehen. Ein weiteres Glas Whiskey, mehr Musik und schon spüre ich, wie der Motor wieder anläuft. Dann dauert es meist auch nicht mehr lange und die ersten Sonnenstrahlen erscheinen am Horizont und damit auch neue Lebensgeister. Frühstück im Sonnenaufgang, ich mit meinem Kätzchen und keine Wolke am Himmel, romantischer geht’s wohl nicht. Nachdem ich meine Bohnen und Speck und Charly sein Whiskas vernascht hat, fange ich an, meine Gedanken des Vortages zu sortieren und aufzuschreiben. Wenn ich ein Fazit der letzten 3 Tage geben müsste, wäre es wohl dieses: Ich fühle mich gut. Ich bilde mir auch ein, besser auszusehen, wenn ich vor dem Spiegel stehe. Mein Gesicht ist kantiger geworden und mein Bauch etwas kleiner. Charly genießt es, daß ich da bin, denke ich. Andauernd schmiegt er sich um meine Beine und kann gar nicht glauben, dass ich nicht zur Arbeit muss oder sonst irgendwohin. Ich kann es selbst kaum glauben.

5.     November

Natürlich läuft nicht alles glatt. Die Tage und vor allem die Nächte, in denen ich mich dem Loch nähere und mich jedes Mal ein bisschen länger darin aufhalte, sind mit  einer Fülle von Gedanken und Gefühlen geflutet, die ich in meinem ganzen Leben bisher immer nur angerissen und sofort wieder dem alltäglichen Dies und Das geopfert habe. Der Zustand steigert meine Neugier. Mal hocheuphorisiert, einen Gedanken wirklich mal zu Ende gedacht zu haben, kitzelt er im nächsten Moment meine destruktiven Fühler, lockt und reizt, wird zum bösesten Zynismus. Ich akzeptiere dies als Teil des Experimentes und versuche zu lernen, das Steuer von der einen in die andere Richtung zu lenken. Vielleicht sind diese Grenzpunkte der Raum, in dem Genie und Wahnsinn entsteht, wie man so schön sagt. Mir gefällt der Gedanke, daher schreibe ich ihn auf. Ich stelle mir das Loch wie einen Tunnel vor. Die Natur hat uns atmenden Wesen einen Gefallen getan und leitet uns im Moment des Einschlafens sicher bis zur anderen Seite. Dass ich diese Blackbox betrete ohne meine Sinne auszuknipsen, ermöglicht mir, mich etwas genauer umzuschauen und nach eventuellen Seitengängen zu suchen, abseits des sicheren Weges. Was dabei genau herauskommt, ist schwer zu sagen. Mein Weg wird von Nacht zu Nacht immer etwas länger, dadurch aber auch der Drang, mich vollends hineinzugeben oder einzuschlafen. Ich glaube, dass mir schon einige Dinge viel klarer geworden sind, aber bis ich dann wieder in der Verfassung bin, sie aufzuschreiben, habe ich Vieles davon schon wieder vergessen. Ich brauche definitiv mehr Übung. Natürlich vergisst man da auch nebensächliche Dinge leicht. Dass ich mich seit zwei Tagen nicht mehr gewaschen habe beispielsweise. Oder vorhin, als ich mir eine Zigarette gedreht habe und plötzlich merkte, dass ich die letzte noch gar nicht geraucht habe. Was mir leid tut ist, dass ich Charly angeschrien habe. Ich war sicher, ihm jeden Tag frisches Futter in seine lustige kleine Schale gegeben zu haben. Er störte mich bei meinen morgendlichen Liegestützen, plärrte und knallte mir seinen Schwanz ins Gesicht, so dass ich wütend wurde, mich groß machte und einen großen Schrei los lies. Charly buckelte und flüchtete in die Küche. Dann erst sah ich, dass die Schale tatsächlich leer war. Ich hatte es einfach vergessen. Das tat mir unendlich leid. Ich machte das Ding wieder voll und schob es ihm in die Küche. Nach einer Weile hörte ich, wie er sich darüber hermachte. Eine viertel Stunde später lag er wieder schnurrend auf dem Sofa und ließ sich von mir kraulen. Charly war nicht nachtragend, das hat er von mir. Ein guter Kerl.
Ich mache mich wieder an die Arbeit. Alles voller leerer Flaschen auf und unter dem Schreibtisch. Sie rücken der Tastatur immer näher und ich muss vorsichtig sein, keine umzuwerfen, wenn ich schreibe. Es ist ein bisschen wie Mikado. Zur linken Seite kann ich durch das vom Staub und Vogelschiss trübe Fenster auf die Straße schauen. Da ist der Drogeriemarkt und davor die Bushaltestelle voller Schulkids (fast hätte ich Schuldkids geschrieben). Es ist jetzt 9 Uhr morgens und draußen regnet es schon seit Mitternacht. Ich mag Regen in der Nacht, vor allem, wenn ich mich irgendwo drinnen befinde. Es erzeugt eine natürliche Isolation und Ruhe. Das Tageslicht gibt der Szene aber schon wieder etwas Trostloses. Wenn sie wenigstens den Asphalt bunt anmalen würden. Ich sehe viele geschäftige Leute mit Regenschirmen oder Händen über dem Kopf, die sich schnell bewegen, um nicht noch nasser zu werden. Alle Schultern werden vom Asphalt angezogen; ein paar von ihnen flüchten ins Café da Roberto mit den rot getönten Scheiben. Niemand läuft hier wie ein Löwe. Sie sind fertig und sie merken es nicht, weil man ihnen ihre täglichen Aufgaben zum Frass vorgeworfen hat. Was geht in ihnen vor? Die junge Dame mit dem grünen Mantel ist vielleicht frisch verliebt, aber warum ist sie nicht bei ihrem Liebsten, was ihr alles retten könnte? Der alte Mann, dem seine Ledertasche gerade in eine dreckige Pfütze gleitet, hat vielleicht gestern seine Krebsdiagnose bekommen, aber eifrig rennt er zu seinem Banktermin oder ähnlichem. Der Bus kommt. Der Fahrer ist womöglich heute morgen aufgewacht und seine Frau war weg, doch anstatt sich eine Machete zu besorgen und dem Nebenbuhler die haarigen Hoden aus ihrer Vagina zu schneiden, lädt er die Schulkinder ein um sie geografisch zu bewegen, aber sonst bewegt sich nichts. Jürgen wird sich heute wieder ordentlich den Kopf über seine scheiß Schraube zerbrechen und heute Nacht besaufen. Ich frage mich ehrlich, wo die Feder steckt, die das ganze am Laufen hält. Man kann den ganzen Tag hinter sich bringen mit „Wie geht’s?“ – „Muss“, - „Schlechten Menschen geht’s immer gut...“, begleitet von den immer gleichen Songs, die sie im Radio spielen. Auch ich war einer von ihnen. Warum machen die Menschen das? Ich sag euch eins: Es ist reine Eitelkeit. Ein Brettspiel, auf das du zunächst keinen Bock hast. Dann erklärt man dir die Regeln und vor allem, dass du gewinnen kannst, und du denkst: „Hey, das krieg ich gebacken, da bin ich schlauer als die anderen.“ Und mit jedem Zug, der dich einen Schritt vor die anderen setzt, fühlst du dich besser. Du bist was wert, du bist kein Loser. Ein Hund hat auch besseres zu tun, als Pfötchen zu geben und sich auf dem Boden zu rollen, aber wenn er sein Leckerchen bekommt und die Ohren gekrault, ist das doch schon wieder was anderes. Good job, diggah. Können alle ruhig das Haus und die Karre sehen. Wenn du gewonnen hast, wirst du dich zurücklehnen und all die jungen Hühner in deinem Pool bumsen und deine Erben sollen dabei deinen Phallus sehen, wie er die untergehende Sonne verdunkelt. Sie werden ein Vorbild fürs Leben haben. Die Sache ist nur, dass du nicht gewinnst. In Monopoly ist auch kein Exit vorgesehen. Ha, sie haben dich verarscht? Leider ist es dann nur zu spät und der nächste Schlaganfall oder Herzkasper wartet um die Ecke. Deinen Schwanz wirst du dann auch nicht mehr so richtig benutzen können, außer die Sonne steht schon sehr tief. Nein, no fucking way. Wenn ich die Jungs  dick grinsend in ihren teuren Autos sehe, kenne ich den Preis dafür und der besteht für die meisten, die keine Gs sind, aus Überstunden, Schlafstörungen und Aderlass für die Probleme anderer. Es ist es nicht wert. Schmidtchen, DAS war sein Schrei. Ein lautes, hässliches NEIN! Das zu-spät-Erkennen, die UN-MÖGLICHKEIT seines Lebens, das sich durch seine Luftröhre presste und für immer verschwand. Und mich schaudernd zurückließ. Hier was zum Zitieren.
Leben: Mach es kurz und schmerzvoll, aber mit DEINEN Schmerzen. Lass die Hölle zu und lass die Liebe zu und du wirst ein paar Götter um dich haben, wenn alle Geschichten erzählt sind oder du lachend von der Klippe springst.
Andererseits Tod: Welcher Tod? Bis jetzt unsterblich, Baby. Darauf erst mal nen Schluck. Auf Großes.
Was ist das? Ich glaube ich höre Schritte im Treppenhaus. Bin gleich zurück.

09:20 Uhr. Das war merkwürdig. Ich habe die Musik ausgemacht und an der Tür gelauscht. Ich höre immer mal wieder meine Nachbarn, wenn sie den Müll runterbringen oder zur Arbeit gehen, das bin ich gewohnt. Diesmal waren es jedoch schwere, bestimmte Schritte. Fast wie jemand in Kampfstiefeln. Es hört sich an, als wäre er oder sie fast ganz oben im Treppenhaus. Dann blieben die Stiefel abrupt stehen. Durchs Schlüsselloch konnte ich aber niemanden sehen. Mein Herz raste. Plötzlich marschierten sie in einem Heidentempo wieder nach unten, die Haustür knallte zu und es war wieder still. Ich hab mir einen Whiskey eingeschenkt, um mich zu beruhigen. Das Ganze passt mir so gar nicht in den Kram. Ich wägte die Möglichkeit ab, dass man mir einen Auftragskiller auf den Hals gejagt hatte weil ich nicht bei der Arbeit erschienen war, tat dies aber schließlich als Blödsinn ab. Wahrscheinlich nur ein Handwerker, der zu Schmidtchen wollte oder sowas. Die haben auch schwere Arbeitsstiefeln, das wusste ich, da ich mir nach dem Studium selbst was als Bodenverleger dazuverdient hatte. Die Musik lasse ich trotzdem erst mal aus.

16:11 Uhr. Im Briefkasten liegt bestimmt schon meine Kündigung. Mit sowas sind die immer schnell. Ich bin froh, dass ich das Telefon von der Leitung genommen habe, denn mein Chef wird sich bestimmt verpflichtet gefühlt haben, ein oder zweimal anzurufen, bis er mich zum Teufel wünschte. Charly hat gemerkt, dass ich vorhin etwas nervös war und läuft jetzt unruhig in der Wohnung umher. Ich kann euch gar nicht genau erzählen, was ich die letzten Stunden alles gemacht habe. Meine täglichen Liegestütze, ja. Außerdem erinnere ich mich, dass ich sehr viel getrunken habe und mein Gesicht im Spiegel untersucht habe, was mir im Nachhinein wie eine Ewigkeit vorkommt. Ach ja, das ist wichtig: Als ich vor etwa einer Stunde am Schreibtisch saß und IHREN Namen mit meinem Taschenmesser in die Steinwand ritzte, sah ich wie der Schulbus angefahren kam, um die ganzen Kids wieder abzuladen. Da waren ein paar gutgelaunte Gestalten dabei, zum größten Teil die Jungs, die sich wohl auf ihre Playstations oder Gangbangs am späten Nachmittag freuten, während sich die Mädchen in kleinen Grüppchen sammelten, ihre langen Haare durch die Gegend warfen und sich in irgendeinem nichtigen Gewäsch erschöpften. Vielleicht war es aber auch genau andersherum, heutzutage weiß man ja nie so genau. Als sich die Menschentraube langsam auflöste, blieb eine Gruppe von sieben oder acht von ihnen zurück, auch ein Mädchen war dabei. Sie bildeten einen Halbkreis um den Laternenmast neben der Haltestelle, ein paar schlugen sich die Hände aufs Knie und lachten wie die Bekloppten, ein paar zogen ihre Handys und schienen zu filmen. Zwei Kerle drehten ab und verließen die Szene, wodurch ich einen unverdeckten Blick auf den Laternenmast werfen konnte. Ein dürrer Junge mit hässlich gelber Regenjacke und Baseballcap stand dort wie am Marterpfahl, während ein anderer zu seinen Füßen kniete und ihm offensichtlich die Schnürsenkel um den Mast band. Der Junge in der Regenjacke schob die Arme nur halbherzig den Angreifern entgegen. Dabei lachte er, aber es sah aus wie ein Lachen aus Scham, so als könnte er der Situation entkommen, wenn er nur mitspielte. Natürlich klappte das nicht und als sie schließlich fertig waren und alle ihre Fotos oder Videos gemacht hatten, verloren sie das Interesse, steckten die Handys ein und machten sich zügig aus dem Staub. Zurück blieb der arme Tropf, gefesselt und gedemütigt, mit dem erstarrten Lachen im knallroten Gesicht. Das zu sehen machte mich unheimlich traurig, denn er sah nicht so aus, als hätte er das verdient. Soweit ich das mitbekommen habe, hatten ihm nichts weiter getan, nicht geschlagen oder bespuckt, aber das machte keinen Unterschied. Es liefen ein paar Passanten vorbei, beachteten ihn gar nicht, und es dauerte eine Weile, bis eine Frau ihn endlich losmachte und er mit seinem Rucksack davon trotteten konnte. Schwäche, das ist der Killer und davon hatte er wohl nun eine Portion mehr im Gepäck.

17:20 Uhr. Eigentlich wollte ich um diese Uhrzeit in meinen Büchern lesen, aber ich sitze vor dem Laptop und starre an die Wand. Diese ganzen Bücher, all diese großen Schriftsteller. Wer soll das alles lesen? Ich denke, ich werde ein wenig onanieren. Das halte ich im Moment für sinnvoller.

20:00 Uhr. Ich bin müde. Meine Augenlider sind so schwer, so dass ich mit aller Kraft die Augen verdrehe, um sie in Bewegung zu halten. Charly liegt neben seiner Schüssel in der anderen Ecke des Raumes. Ich muss die Augen zusammenkneifen, um ihn scharf zu sehen. Heute Nacht könnte es soweit sein, dass ich aufgebe, mich fallen lasse. Es sind jetzt schon 5 Tage und meine Vorräte an Tabak, Alk und Fitmachern gehen zur Neige. Ums Essen mache ich mir keine Sorgen, da ich eh keinen Appetit mehr habe. Ich habe Charlies Napf mit Futter vollgemacht, für den Fall dass ich die Nacht nicht überstehe. Aber warum schaut er mich so komisch an? Was hat er für ein Problem, hat er Angst vor mir? So hat er mich noch nie angesehen. Vielleicht hat er irgendetwas vor…. Ich traue ihm nicht. Besser ich halte ihn mir vom Leib. Mein Körper ist im Herbst, ich bin hoffnungslos. Vor allem schreibe ich hier nur Scheisse auf. Wo sind die Wörter hin…Wie schön wäre etwas Abwechslung…Fernsehen, zum Beispiel. Nur ein bisschen. Nur um ein wenig neuen Input zu bekommen und die Gedankenmaschine wieder anzuschmeissen. Aber selbst die Musik traue ich mich nicht anzumachen, für den Fall, dass wieder jemand vor der Tür steht. Ai Wei Wei hatte es leichter als ich. Keine Scheinwerfer sind auf meine Existenz gerichtet. Niemand ist Zeuge. Und Charly flechtet Intrigen und will die Zelle von innen heraus zerstören. Charly ist eine Schraube.
Shit. Ich muss mich zusammenreißen, ich halluziniere. Ganz klar aber sehe ich mein Problem, das was schon immer da war, aber sobald ich es versuche zu greifen, in Gedanken zu fassen, verschwimmt es. Wie alles hier. Ich bin ein Egoist, ich habe immer Gefallen daran gefunden alles zu vernichten. Unterschwellig. Alles Gute was man mir entgegen gebracht hatte, mein ganzes Leben lang, alles zersetzt. Sprünge, von einem Herz zum anderen, und jedes einzelne ließ ich ausgetrocknet und still zurück. Ich habe unsere Liebe zersetzt, unterschwellig. Zu feige gewesen, um wild zu lieben. Zu wild gelebt, um Akzente zu setzen. Ich bin schuld. Schuld. SCHULD. Welche Macht dieses Wort hat. FUCK. Ich nehme es dir nicht krumm, mich verlassen zu haben. Ich wollte dich hier herauslassen, aber ich merke nun, du bist der Grund, warum ich das alles hier veranstalte. Ich kann dich nicht mehr aussparen. Ich weine, wie ich nie geweint habe. So schwach wie ich mich nun fühle, so entschlossen bin ich, mich dir zu öffnen und dich mit ins Loch zu nehmen. Ich habe mir den Laptop von meinem Schreibtisch auf die Couch geholt. Es ist Zeit, zu schreiben. Nicht davor oder danach, sondern während es passiert. „Live aus dem Loch“. Ich ziehe eine Line, ziehe dein Bild aus meinem Geldbeutel und lehne es an die letzte Whiskyflasche. Jetzt heißt es warten.

x. November.
Aufgewacht und zutiefst verwundert über das, was hier auf dem Monitor steht. Ein Gedicht…Man sollte mit Wörtern nicht spielen. Jedes Gedicht ist ein Ventil und verhindert das Wesentliche, verhindert die Aktion. Sie jagen mir Angst ein: Die Wörter, die wie Schläge kommen und mich schwindelig machen. Das Gedicht ist eine Schraube. Ich muss es löschen.

Es ist hell draußen, auf meinem T-Shirt hängt Speichel und ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Ich muss wohl die Flaschen auf dem Tisch abgeräumt haben, ein paar liegen auf dem Boden in ihren eigenen Splittern. Am wahrscheinlichsten ist, dass ich einfach eingeschlafen bin. Ich gehe zum Fenster und sehe an der Haltestelle wieder die Schulkids stehen. Auch der Kerl mit der gelben Regenjacke ist unter ihnen. Um ihn herum die gleichen Typen, die ihn festgebunden haben. Er lacht verhalten über etwas, was sie sich dort erzählen. Vielleicht sogar die Marterpfahlgeschichte. In meinem Kopf kreisen tausende Erinnerungen der letzten Tage in einer chaotischen Achterbahn. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich weg war, aber ich fühle mich einigermaßen erholt. Körperlich zumindest. Es könnten Tage gewesen sein. Und die Essenz meiner ganzen Arbeit sollen diese Zeilen gewesen sein?! Ich kann mich nur noch an ein verstörendes Gefühl erinnern, wohl kurz bevor ich im Tunnel verschwunden bin. Ein Gedanke, dass das hier alles nur ein Traum ist, eine Fiktion. Dass ich in Wirklichkeit noch mit ihr zusammen bin und alle Zeit der Welt habe, es gut zu machen. Es ist enttäuschend. Ich erkläre das Experiment für beendet.
Da fällt mir auf, dass ich Charly gar nicht sehe. Wo ist der Kerl? Ich geh ihn mal suchen.

Charly ist weg. Die Wohnungstür steht offen, also gehe ich davon aus, dass er abgehaut ist. Obwohl ich mir nicht erklären kann, warum ich sie geöffnet haben sollte oder Charly. An meinen Armen habe ich Kratzspuren entdeckt, ein paar Fellbüschel und ein wenig Blut an der Wand vor der Tür. Er wird mich doch nicht im Moment meiner Schwäche angefallen haben? Der Bastard. Sein Napf war immer noch randvoll. Als ich das Nassfutter entsorgen wollte, bewegte es sich. Ich rieb mir die Augen, aber ich bildete es mir nicht ein. Ich nahm einen Löffel und schob die Brocken auseinander. Dann sah ich sie. Schrauben. Sie haben es hier herein geschafft. Es waren unendlich viele und sie fraßen sich durch das Fleisch. Ich stieß einen Schrei aus und warf den Napf in die Spüle. Ich knallte die Tür zur Küche zu. Es gab noch einen winzigen Schluck Whisky. Das Bild von ihr sah ich nirgendwo. Charly. Er hatte es geklaut. Ich ließ den Stoff langsam die Kehle herunter tröpfeln und schloss die Augen.

Dann ging ich wieder zum Fenster und schaute zur Haltestelle. Sie warteten immer noch auf den Bus. Der Kerl in der Regenjacke. Er ist selbst schuld, er hat sich selbst zum Opfer gemacht und wird es wieder und wieder tun. Er ist wie ich. Wie er mitspielt und lacht. Ich hasse ihn. Er muss eine Lektion lernen. Wie es mit mir weitergeht, wissen die Götter allein, aber es ist auch nicht wirklich wichtig. Es ist Zeit, jemanden aufzuwecken. Mein Blick wandert zur offenen Haustür. Ich werde den Laptop zuklappen und ein Gedicht schreiben, einen neuen Archetypen schaffen. Mit meiner Faust. Ich bin die verfluchte Schraube.