TAGEBUCH EINES
TAGEDIEBES (2014)
1.
November 2012
Der Grund warum ich
dies schreibe ist, um eine klare Grenze zu ziehen. Meine Position werde ich
euch in einigen Tagen noch klarer machen können, aber diese Zeit werde ich
brauchen, bis sich der Rost von meinen Gedanken und Worten gelöst hat. Fürs
erste muss das reichen. Wenn euch das zu lange dauert, legt das Ding hier weg,
wo auch immer ihr es her habt, benutzt die Rückseite für nen Einkaufszettel
oder verfüttert es eurem Hamster, falls er Vegetarier ist und damit etwas
anfangen kann. Mein Name ist Vincent Frey, ich bin 28 Jahre alt, mittelgroß mit
athletischer Figur und einem kleinen Bauchansatz (der vom Saufen kommt). Ich
habe grün-blau-graue Augen, hohe Wangenknochen und kurzgeschorene Haare mit
Geheimratsecken, die, umso länger sie werden, eine rötliche Färbung annehmen.
Mein Geld verdiente ich bis gestern als kaufmännischer Angestellter eines
Unternehmens, das große Produktionsanlagen herstellt. Ich bin weder Vegetarier
noch habe ich einen Hamster. Einen kleinen schwarzen Kater namens Charly, mit
dem ich eine kleine schicke Wohnung teile, das ja. Ich würde dieser
Beschreibung gerne hinzufügen, dass ich Karriere machen will, denn ich denke,
das wäre drin. Doch dann wäre die ganze Geschichte relativ unspannend und ich
würde hier einen großen Punkt machen. Aber ganz so einfach ist es nicht. Was
ganz wichtig ist, und das taucht in keinem Curriculum Vitae auf: Ich habe einen
Schrei gehört. Schmidtchen, der Tür an Tür mit mir wohnte, verstarb vor exakt 2
Tagen und… Moment…13 Minuten an einem Herzinfarkt, kurz nach seinem 50.
Geburtstag. Ich habe ihm noch gratuliert und eine Flasche Schampus
vorbeigebracht, die ich am gleichen Tag aus einer Tankstelle geklaut hatte. Das
mache ich übrigens öfters, klauen, meine ich. Ich habe schon alles Mögliche
geklaut. Das erste Mal mit 6 Jahren, als ich mit meinem Vater in Usedom war,
ein kleines goldenes Vorhängeschloss, das gut in meine Jackentasche passte. Das
nächste, woran ich mich erinnern kann, war ein bescheuerter Miniatursaurier aus
Toys R’Us. Immer mal wieder irgendetwas. Auch Liebe war dabei. Pathetisch? OK,
vielleicht eine weitere Macke von mir. Nicht dass ich es nötig gehabt hätte. Mein
Vater hätte mir damals wie heute jeden Wunsch erfüllt und auch war ich nicht so
hässlich, dass kein Mädchen nicht auch ohne Taschenspielertricks gerne das
Bett mit mir geteilt hätte. Aber der Kick, versteht ihr. So fing das alles an.
Aber ich drifte ab. Schmidtchen starb an einem Herzinfarkt, aber der Schrei,
der durch die dünnen Wände kam (während ich gerade dabei war, meine zweite Flasche
Rotwein herunterzuwürgen), ich sag euch, da war noch was anderes dabei. Ein
hohles Geräusch, wie Luft, die man mit übertriebener Brutalität durch einen
zusammengequetschten Gartenschlauch presst. Aber vielleicht kommen wir erst zu
der Schraube. Am darauf folgenden Tag, also gestern, machte ich meine Tour
durch die Werkstatt des Unternehmens, in dem ich arbeitete, auf dem Weg zu
einem wichtigen Meeting im Geschäftsführerbereich, als mich ein Jürgen, einer
der Anlagenmechaniker, abfing. „Vincent“, sagte er. „Ich habe ein Problem.“
„Ich habe dir gesagt, vergiss die Alte. Soll sie sich halt ficken lassen, bis
sie platzt. Du bist zu sentimental.“ „Nein, die Fräsmaschine, komm mal kurz.“
Ich folgte ihm. Die Maschine ging fast bis zur Decke und besaß einen digitalen
Monitor und allerhand blinkende LEDs. Wert: 50T Öcken. Ich hatte sie für
die Firma eingekauft, deshalb wusste ich das genau. Die Wahl war auf sie
gefallen, da sie durch die automatisierte CNC-Programmierung in einer halben
Stunde 2,74 mehr Aluminiumteile fräsen konnte als bei der manuellen
Bearbeitung durch einen Mechaniker und dabei 32,5% präziser war. Die errechnete
Einsparung in 3 Jahren, bezogen auf den durchschnittlichen Stundensatz eines
Mechanikers, lag bei knapp 60 T Euro. Doch keine Angst, wir haben deswegen
keine Leute entlassen oder so. Das Ding war einfach scheiss effizient und die
Mechaniker, die vorher ihren Schweiß ins Fräsen gesteckt hatten, hatten jetzt
mehr Ressourcen für andere sinnlichen Tätigkeiten wie das Ausfüllen von Wettscheinen.
„Da schau. Die ist einfach stehen geblieben.“ Er deutete auf ein blinkendes
rotes Licht auf dem Monitor. Dort stand „Vibrationsfehler“.
Er sah mich erwartungsvoll an. Ich legte meinen ausgestreckten Zeigefinger über
den Mund und kniff die Augen zusammen. „Scheint ein Fehler mit der Vibration zu
sein.“, fasste ich fachmännisch zusammen. Er nickte zufrieden. „Vincent. Die
steht erst seit 2 Wochen hier und schon Probleme. Wir müssen bis Ende der Woche
den Auftrag für Sator-Tech fertig kriegen. Dem Dr. Schneider brennt schon der
Kittel. Als ob ich sonst keine Probleme hätte.“ „Vergiss sie.“, wiederholte
ich. Er schnaufte. Er tat mir leid. Seine Frau hatte vor drei Wochen über Nacht
all ihren Krempel gepackt und war zu ihrem Fitnesstrainer gezogen. Er kam nicht
darüber weg. „Ne Idee was kaputt ist?“, fragte ich ihn. „Ja, denke schon.“. Er
leuchtete mit einer Taschenlampe in Innere des Apparates. „Da, die Schraube
hier. Total verrostet. Die haben einfach eine alte Schraube hier verbaut! Passt
noch nicht mal richtig ins Gewinde. Siehst du wie sie absteht. Die Schrauben
kriegst du in keinem Baumarkt. Bringt das ganze Programm durcheinander. Was ne
Unverschämtheit. Du musst das sofort reklamieren. Wir müssen für Sator-Tech…“,
„Jaja“, unterbrach ich ihn. „Mach ich.“. Ich klopfte ihm auf die Schultern.
„Ruf mich an, wenn was ist. Du weißt schon…“. Er nickte und wurde still. Ich
drehte mich um und beeilte mich, meinen Termin wahrzunehmen. Als ich später
wieder auf Weg in mein Büro war, bekam ich das seltsamste aller Gefühle. All
die Maschinen, die brummten und surrten oder einfach nur dastanden, wartend,
bis irgendein nervöses Männchen sich daran zu schaffen machte. Sie wirkten
plötzlich komplett verändert. Wie ein banales Wort, das man tagtäglich benutzt,
einem jedoch, einige Mal hintereinander aufgesagt, skurril und fremd in den
Ohren klingt. Ich blieb stehen und ließ den Blick schweifen. Dies war also die
Kumulation jahrhundertlangen Strebens des menschlichen Geistes. Lebenszeit
hunderter, tausender Menschen, angefangen von den alten genialen Beherrschern
der Physik bis hin zu den leidenschaftlichsten Ingenieuren der letzten 20
Jahren. Und doch totes Material. Tote gleichgültige Moleküle, die sich in einem
seelenlosen Tanz bewegten, bis eine kleine rostige Schraube alle Illusion
platzen ließ. Ich bewegte mich durch Schluchten einer Stahlwüste, inmitten
eines Friedhofs, der Gedanken frisst und sich weit über die Hallenwände dieser
Werkstatt erstreckt. Es war ein Gefühl der unmittelbaren körperlichen
Bedrohung, anders kann ich es nicht sagen. Jetzt habe ich aber wieder zu weit
vorgegriffen. Ich hatte noch etwa 30 Minuten zu arbeiten und musste meinem Chef
noch eine Aufstellung unserer Lieferanten vorlegen, außerdem wollte ich mich
noch um Jürgens Schraube kümmern. Also versuchte ich diese merkwürdigen
Gedanken zu unterdrücken und beschleunigte den Schritt. An meinem Schreibtisch
hatte sich bereits wieder ein mittegroßer Stapel Post gesammelt. Ich fegte ihn
gekonnt zur Seite und ging an die Liste. Grundlage dafür waren zwei
Excel-Dateien. Ich dachte kurz nach und programmierte die Formel, die die
Firmenbezeichnungen aus der einen Tabelle mit der Kreditorennummer aus der
zweiten verknüpfen und in einer dritten ablegen würde. Es waren mehr als 1000
Datensätze. Ich versuchte die Formel beim ersten Datensatz und es
funktionierte. Ein Mausklick an der richtigen Stelle und die Formel wurde für
alle Datensätze übernommen. Alle Zeilen waren gefüllt. Vor vierzig Jahren hätte
ich dafür bestimmt 2 Tage gebraucht. Aber das Ding war fertig, die reinste
Zauberei. Ich starrte auf den Monitor und das Gefühl der Bedrohung kam wieder
hoch, obwohl ich es diesmal an nichts festmachen konnte. Ich schickte die
Auflistung per Email an meinen Chef und zog mir hastig meine Jacke an. Für die
Schraube hatte ich keine Nerven mehr. Außer mir war nur noch meine Kollegin da,
die um diese Uhrzeit wie immer Homeshopping machte und sich die Überstunden
anrechnen ließ. Ich stellte mich vor Sie, gab ihr die Hand und wünschte ihr
einen schönen Abend. Sie sah mich überrascht an. Verlegen zog ich die Hand
zurück, selbst verwundert über meine Geste. Dann fuhr ich nach Hause, fütterte
Charly und betrank mich. Irgendwann mitten in der Nacht, ich sollte in 3
Stunden wieder im Geschäft antanzen, fasste ich den Entschluss, meine Wohnung
nicht mehr zu verlassen. Das war gestern und heute ist der erste Tag dieses
Experimentes, das nichts Geringeres zum Ziel hat, als die Verknotungen in
meinem Hirn zu lösen. Volles Risiko, Baby. Was auch immer das bedeuten soll.
Zumindest wird mir mein Vater keinen Minisaurus dafür kaufen, so viel ist
sicher.
2.
November
Klar, ich könnte in
Urlaub gehen und die „Seele baumeln lassen“. Bullshit. Das einzige, was man dann
macht, ist, sich für eine Weile vorzustellen, man hätte ein anderes,
spannenderes Leben, aber eigentlich schleppt man die ganze bleierne
Unzufriedenheit doch nur an nen anderen Ort und es dauert ne ganze Weile, bis
sich das Karussell im Kopf langsamer dreht. Meist beschleunigt man dies mit
sinnlosem Fotoknipsen und Rumsaufen und bevor man es merkt, ist man auch
schon wieder daheim. Mit unseren durchschnittlichen 3 Stunden Fernsehen oder
Internet und dem Vollrausch am Wochenende. Sicher, das Ganze bringt ne Menge
Spaß und Ablenkung, aber Ablenkung wovon eigentlich? Davor, dass wir nicht die
Eier haben, uns wirklich mal Gedanken zu machen, behaupte ich jetzt einfach
mal. Mann, wir haben alle die dumme Angewohnheit irgendwann ins Gras zu beißen,
wisst ihr das eigentlich schon? Also, es ist nicht wo du bist. Versteht mich nicht
falsch. Ich steh auf Urlaub und Fotoknipsen, aber irgendwas ist in meinem Kopf
passiert, und das muss ich erst verstehen, bevor ich wieder mit Sombrero und
glänzenden Augen am Flughafen stehe. Vielleicht liegt es daran, dass ich als
5-jähriger mal an die Heizung geknallt bin, oder dass ich zu wenig Backpfeifen
in meinem Leben bekommen habe, aber genau das muss ich herausfinden. Ich werde
daheim bleiben und nachdenken. Und weil ich ungeduldig bin und auch Angst habe,
es mir anders zu überlegen, will ich auch nicht schlafen. Schlaf klaut Leben,
hatte ein Typ an der Bar mir mal erzählt. Guter Spruch, aber kurz nach dieser
göttlichen Erkenntnis ist er eingepennt und vom Stuhl gekippt. Wenn das alles
funktionieren soll, brauche ich also einen Plan. In etwa einer halben Stunde
wird Chako, ein Freund von mir, hier klingeln und hat hoffentlich alles im
Gepäck, was ich ihm am Telefon durchgegeben habe. Unmittelbar danach habe ich
es ausgeschalten. Die unwichtigeren Dinge abgezogen, handelt es sich um:
- 1 Kiste Rotwein
- 2 Flaschen Jameson
Whiskey (schön mild und nicht zu teuer)
- 10 Dosen Bohnen mit
Speck (Fertigkost, aber ebenfalls billig)
- Brot, Wurst, Käse
- ….Uch - Fitmacher –
- 7 Päckchen Pueblo
Tabak (inkl. Filter und Papers)
Und zu guter Letzt: 20
Dosen Katzenfutter für meinen kleinen Charly, der in dieser Zeit mein einziger
Ansprechpartner sein wird. Ich schätze, es wird so zirka eine Woche dauern, bis
ich etwas herausgefunden habe oder mich erhängt habe. Kleiner Spaß. Aber viel
länger darf es nicht dauern, da die Vorräte dann aufgebraucht sein werden und
ich wohl oder übel doch wieder unter Menschen gehen muss, die mit ihren
Gedanken, ihrem Suff oder beidem über mich herfallen und alles zunichtemachen.
Es ist nun halb zehn
Uhr abends und ich habe es mir mit Charly auf dem Schoss an meinem Schreibtisch
gemütlich gemacht. Auf Chako war Verlass gewesen. Auch dass er keine Fragen
stellt, nie, rechne ich ihm hoch an. Er hält mich wahrscheinlich eh für
verrückt, seit ich ihm mal erzählt
hatte, dass Menschenfreund zu sein und Amok zu laufen sich im Grunde
gegenseitig bedingt. Zeit, sich umzuschauen. Vor mir der Cabernet Souvignon aus
Kalifornien, den ich in Reminiszenz an alte Tage (you know) vielleicht kost- aber nicht stilverächtend direkt aus der
Flasche trinke, ein hässlicher Aschenbecher in Form eines Schwans, der Laptop
und die weiße Wand vor mir. Wenn ich die Arme ausstrecke, kann ich den Rauputz
berühren und mich ¨erden¨. Hier komme ich selbst mit dem Kopf nicht durch, auch
mit Mühe, und das ist ein gutes Gefühl. Hausarrest also. Ich stellte mir vor,
wie es Ai Wei Wei oder Aung San Suu Kyi wohl ergangen war oder den anderen
armen Teufeln, mit den toten, erwartungsvollen Kameraaugen direkt hinterm
Fenster, gutwollende, aber doch krebsartige Auswüchse des großen Haies, der
lacht und lacht und sich die Zähne bleckt. Solange die Gutmenschen noch
Hoffnung haben, es wird nicht weggeschaut, kann Michael Meyer es sich mit
seinem dicken Wanst und seiner humanistischen Bildung zuhause vor dem Fernseher
bequem machen und seinen gelangweilten Freunden, Kollegen und Liebhaberinnen
von den neuesten Geschehnissen berichten. Und alle sind betroffen aber in
gewisser Weise befriedigt und gehen mit gutem Gewissen zur Tagesordnung über.
Das ist das Ventil, das den notwendigen Druck aus dem Kessel lässt und das
System stillschweigend schützt. Dank moderner Medien weiß es zudem immer, woher
der Wind gerade weht, und wo man vielleicht ein wenig die Stellschrauben
zurückdrehen sollte, dass sich eben dieser wieder legt. Die wirklich großen
Revolutionen, da bin ich mir sicher, werden in Zukunft nicht in Facebook und co
geboren, sondern wieder in dunklen Kellern voller Verzweiflung, von hungrigen
Menschen, und ich meine wirkliche Menschen, keine selbstverliebten Profilierer
und Künstlerproleten, die sich die ganze Masche auf den Leib schneidern, um
dann mit schicken Frisuren und Halstüchern flanieren zu gehen und insgeheim von
nem knallroten Cadillac und Champagner in der Unterhose von Halle Berry
träumen. Auf die Jungs ist kein Verlass, glaubt mir. Wenn die Sache losgeht,
sitzen die gerade beim Friseur. Die Sache mit der Schraube geht mir nicht aus
dem Sinn. Heißt es nicht, man hat ne Schraube locker, wenn...ja, wann
eigentlich? Jeder sucht sich einen Archetypen heraus und stapft die
altbekannten Wege ab. Das Portfolio ist groß: Wir haben den Rockstar, den
unterschätzten Künstler, den notgeilen Vorstandsvorsitzenden, den Sportfreak,
den lustigen Schwulen, den kleinen dicken Jungen, den alle einfach ¨nett¨ finden,
und so weiter. Das schafft Orientierung und Sicherheit. Jeder weiß, was er zu
machen hat. Als Gott oder Superalien from outta space dem Menschen den Instinkt
nahm, wußte dieser auf einmal nicht mehr, was er zum Teufel überhaupt mit sich
anfangen soll, bis der große Vorhang fällt. Ängstlich krallt er sich dann an
irgendetwas, das schonmal funktioniert hat. Irgendwann gibt es vielleicht noch
die ¨Katze¨, ein solcher leckt dann andauernd an sich herum und wackelt
unkontrolliert mit dem Schwanz, oder was weiß ich. Sobald ein Archetyp von der
Gesellschaft anerkannt wird, gilt alles als normal, solange er sich ans
jeweilige Regelbuch hält, und mit Glück ist er dann sogar bei der nächsten
Staffel DSDS dabei. Die angeblich Verrückten haben kein Regelwerk, sie weigern
sich bewusst oder unbewusst und sind so nicht mehr greifbar. Das sind die mit
der Schraube, und das schürt Verunsicherung. Die Katze, also die auf meinem
Schoss, hat regelkonform angefangen zu schnurren. Wäre ich auch Katze würde ich
mitschnurren. Aber leider bin ich gerade im Affenmodus, kratze mir den Sack und
kippe mir noch einen ein.
3.
November
Also, was ist zu tun?
Ich weiß es auch nicht. Aber es gibt Ansätze und die sind alle gut. Wenns dich
woanders hin treibt, dann mach nen klaren Cut und hau wirklich ab. Aber dann
ohne Fotoapparat. Stürz dich in die Fluten ohne Schwimmflügel. Der Lacher über
einen Witz an der Bar, den keiner mehr versteht, weil alle zu voll sind, ist
auch ok, aber dann sei kein Arschloch und verpiss dich, bevor dir jemand
umständlich die Pointe erklären will. Das ist heute mein dritter Tag ohne
Schlaf. Die Fitmacher wirken, der Whiskey hält meine Laune aufrecht und das
Whiskas die von Charly. Achtung, Wortspiel! Das ist auch so eine Sache. Sollte
man das, mit Worten spielen? Jedes Wort ist ein Gedanke, sagt man. Es wäre viel
gewonnen, wenn die Leute mehr ihrem Bauchgefühl trauen würden und sobald es ums
Denken geht, das auch verdammt noch mal ernst nehmen. Wer im Garten nur ein
bisschen rumkickert, wird nie das WM-Spiel entscheiden. Wasserspritzpistolen
machen auch keinem Einbrecher mehr Angst, außer er ist ¨Katze¨. Unsere Wörter
und Gedanken werden weichgespült, jeden Tag ein bisschen mehr, bis nur noch
harmloses Geschwätz übrigbleibt oder Bücher von Ken Follett. Doch es gibt sie
noch, die Zeilen, die einem das Blut zum Wallen bringen, so dass man sich alle
Kleider vom Leib reissen will. Scharfe Geschosse aus kleinen Schlupfwinkeln.
Bukowski wußte und konnte das, obwohl er auch unter Verdacht eines Archetypen steht.
Aber es war sein eigener und damit ist er freigesprochen. Nicht nur den Göttern
kommt das große Kotzen, wenn er wüßte, wofür er alles nach seinem Tod herhalten
muss, angefangen von falsch zitierten Gedichten, die wie Werbeslogans die Zeit
zwischen zwei Schnäpsen überbrücken, bis zu diesem Text hier. Er hat alles
richtig und falsch gemacht und wurde zu groß, wenn auch anders als erwartet.
Noch einer: Böke, und der lebt wenigstens noch. Auf einem Poetryslam in
Mannheim, wo ich aus unerfindlichen Gründen vom Moderator als
semiprofesioneller Vollprolet angekündigt wurde und dementsprechend den letzten
oder vorletzten Platz machte, lernte ich einen jungen Türken kennen, der eine
wirklich scharfe Zunge hatte und mich mit seinen halbapokalyptischen Texten von
den Socken haute, so dass ich bestimmt ein Jahr lang bei Vollmond nicht mehr
die Wohnung verließ. Und es gibt die, die nichts mit Lyrik am Hut haben,
augenzwinkernde Thugrocker und Spielsüchtige oder den alten Ron
Llave-inhalierenden Michael in seiner Cabana auf Puerto Rico, die einen Knaller
nach dem anderen loslassen. Also: Hoffnung besteht, Freunde. Macht einfach mal
den Fernseher aus. Das ist zwar nur die halbe Miete, aber zumindest lassen sich
die fahlen Gesichter da draußen ein wenig besser ertragen.
4.
November
Alle kommenden Zeilen
sind noch ungefüllt. Und das macht sich nicht von allein. Gutes Gefühl. Das
Undankbare am Schreiben ist, dass es einen Leser erfordert, der sich auf deine
Verrücktheiten einlässt, sonst verschwindet alles unbewertet und ruhmlos wie
dein letzter Haufen Scheiße im Klo. Ein Straßenschläger hats einfacher, einen
Treffer zu landen und meist hält die Wirkung auch länger an. Zu viele Autoren
drängeln sich allzu gerne ums Geschehen herum und beobachten aus sicherer
Entfernung, und selbst wenn man hin und wieder denkt, jetzt kommt gleich der
große Punch, verfallen sie plötzlich in nichtssagende, meist selbstverliebte
Betrügereien. Nur wenige steigen direkt in den Ring und gehen das Risiko eines
Knockouts ein. Naja, der Erfolg gibt ihnen wohl Recht, oder? Aber ich hoffe
dennoch, dass einige da draußen noch den Unterschied erkennen. Ich will das
lieber nicht weiter vertiefen, sonst komm ich womöglich selbst noch auf die
Idee, hier Schluss zu machen, vor die Tür zu gehen und mir bei der Baustelle
gegenüber Streit zu suchen. Aber nun stecken wir hier gemeinsam fest und
beschäftigen uns zur Abwechslung mal mit meiner Scheiße. Haha. Die letzten Tage
habe ich sehr wenig geschrieben, was nicht heißt, dass ich untätig war. Ich
habe viel nachgedacht, aber will euch mit den unwichtigen Einzelheiten
verschonen. Mit dem Trinken halte ich mich etwas zurück, was nicht heißt, dass
ich wenig trinke. Die letzten Monate hatte mir das Saufen eh keinen wirklichen
Spaß mehr gemacht. Nein das stimmt nicht. Aber die Qualität verändert sich.
Nicht mehr dieses „whoaa, da bin ich, heute Attacke!“ was mit 16 oder 20 noch
so aufregend war und immer nur damit endete, dass man sich total blamierte, bei
allen Frauen abblitzte und sich die Hosen und Schuhe vollkotzte. Ab ein paar
Gläsern Whiskey kommt nun eher so eine angenehme Geschäftigkeit, was mir hilft,
mich zu konzentrieren und das Lachen ein wenig herzlicher macht. Dann
meinetwegen immer noch „Attacke“, aber irgendwie abgeklärter. Wie an Bord eines
im Sturm gepeitschten Kutters, wenn jeder Handgriff und jeder Seemannsspruch
sitzen muss, damit sich das Ding
sicher über Wasser hält. Das klingt vielleicht wirklich nach heimlichem Alki,
aber ich will damit eigentlich nur sagen, dass ich bewusster trinke und
niemanden mehr damit beeindrucken muss. Was mache ich sonst noch? Viel Zeit
widme ich Charly und ärgere ich ihn im Spaß, bis er sich mir mit einem
aufgeregten Fauchen in die Arme krallt. Wenn er dann nach einer Weile die Lust
verliert, packe ich ihn auf den Schoss und streichle ich ihn bis er anfängt zu
dösen und alle Viere von sich streckt. Ich habe meine alte schwarze Gitarre
wieder herausgeholt und spiele Songs, die mir gerade einfallen, meist auch nur
irgendein wildes Geklimpere, das ich mit „aahhh“ und „ohhh“ begleite. Charly
schnurrt dazu im Halbschlaf, denn Katzen schlafen auch nie wirklich, und sorgt
so für die richtige Atmosphäre. Wenn ich dann anfange mich zu langweilen, lese
ich in den paar Büchern, die ich mir aufgespart hatte, ohne zu wissen warum,
oder mache ein paar Situps und Liegestütze. Gegen vier Uhr morgens beginnt die
harte Zeit. Meine Gedanken fangen an, sich im Kreis zu drehen. Erinnerungen
kommen hoch an die unwichtigsten Situationen, wie der Klang der Stimme eines
Verkäufers beim Mediamarkt oder die Locke meines Chefs, die sein heftiges
zigarettengeplagtes Schnaufen durch kleine Zuckungen untermalte. Eine ungemeine
Erschöpfung überkommt mich und auch eine leise Angst. Meine Bewegungen werden
langsamer und alles unendlich schwer, meine Arme, Beine, mein Kopf. Ich gehe
auf und ab und atme mit Vorsatz schneller, um dagegen anzukämpfen. Ich kann mir
vorstellen, dass sich so ein Todeskandidat in der Nacht vor seiner Hinrichtung
fühlt. Der krampfhafte Willen, wach zu bleiben, um die letzten Stunden und
Minuten zu nutzen und den eigenen Lebensweg zu rechtfertigen, und alles was das
Hirn ausspuckt, ist sinnentleert und trauriger als Werbung für Monatsbinden.
Ich starre auf den großen TV, dessen Anschluss im Keller ich vor knapp einer
Woche gekappt habe und spüre die Zeit langsamer und langsamer werden. Der erste
Tag, den ich nicht geschlafen habe, war ein Klacks, aber in den letzten beiden
Nächten hielt dieser Zustand immer etwas länger an. Es ist wirklich kein Zuckerschlecken,
aber ich koste es aus als Teil meines Experimentes. Zumindest eine Weile, bis
ich merke, dass ich an eine Grenze komme, die ich mich nicht zu überschreiten
wage. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Fitmacher und Schallplatten auf den
Plan kommen, die mich am kleinen Finger aus dem grauenvoll schönen und dunklen Loch herausziehen. Ein weiteres Glas
Whiskey, mehr Musik und schon spüre ich, wie der Motor wieder anläuft. Dann
dauert es meist auch nicht mehr lange und die ersten Sonnenstrahlen erscheinen
am Horizont und damit auch neue Lebensgeister. Frühstück im Sonnenaufgang, ich
mit meinem Kätzchen und keine Wolke am Himmel, romantischer geht’s wohl nicht.
Nachdem ich meine Bohnen und Speck und Charly sein Whiskas vernascht hat, fange
ich an, meine Gedanken des Vortages zu sortieren und aufzuschreiben. Wenn ich
ein Fazit der letzten 3 Tage geben müsste, wäre es wohl dieses: Ich fühle mich
gut. Ich bilde mir auch ein, besser auszusehen, wenn ich vor dem Spiegel stehe.
Mein Gesicht ist kantiger geworden und mein Bauch etwas kleiner. Charly genießt
es, daß ich da bin, denke ich. Andauernd schmiegt er sich um meine Beine und
kann gar nicht glauben, dass ich nicht zur Arbeit muss oder sonst irgendwohin.
Ich kann es selbst kaum glauben.
5.
November
Natürlich läuft nicht
alles glatt. Die Tage und vor allem die Nächte, in denen ich mich dem Loch nähere und mich jedes Mal ein
bisschen länger darin aufhalte, sind mit
einer Fülle von Gedanken und Gefühlen geflutet, die ich in meinem ganzen
Leben bisher immer nur angerissen und sofort wieder dem alltäglichen Dies und
Das geopfert habe. Der Zustand steigert meine Neugier. Mal hocheuphorisiert,
einen Gedanken wirklich mal zu Ende gedacht zu haben, kitzelt er im nächsten
Moment meine destruktiven Fühler, lockt und reizt, wird zum bösesten Zynismus.
Ich akzeptiere dies als Teil des Experimentes und versuche zu lernen, das
Steuer von der einen in die andere Richtung zu lenken. Vielleicht sind diese
Grenzpunkte der Raum, in dem Genie und Wahnsinn entsteht, wie man so schön
sagt. Mir gefällt der Gedanke, daher schreibe ich ihn auf. Ich stelle mir das Loch wie einen Tunnel vor. Die Natur hat
uns atmenden Wesen einen Gefallen getan und leitet uns im Moment des
Einschlafens sicher bis zur anderen Seite. Dass ich diese Blackbox betrete ohne
meine Sinne auszuknipsen, ermöglicht mir, mich etwas genauer umzuschauen und
nach eventuellen Seitengängen zu suchen, abseits des sicheren Weges. Was dabei
genau herauskommt, ist schwer zu sagen. Mein Weg wird von Nacht zu Nacht immer etwas
länger, dadurch aber auch der Drang, mich vollends hineinzugeben oder
einzuschlafen. Ich glaube, dass mir schon einige Dinge viel klarer geworden
sind, aber bis ich dann wieder in der Verfassung bin, sie aufzuschreiben, habe
ich Vieles davon schon wieder vergessen. Ich brauche definitiv mehr Übung.
Natürlich vergisst man da auch nebensächliche Dinge leicht. Dass ich mich seit
zwei Tagen nicht mehr gewaschen habe beispielsweise. Oder vorhin, als ich mir
eine Zigarette gedreht habe und plötzlich merkte, dass ich die letzte noch gar
nicht geraucht habe. Was mir leid tut ist, dass ich Charly angeschrien habe.
Ich war sicher, ihm jeden Tag frisches Futter in seine lustige kleine Schale
gegeben zu haben. Er störte mich bei meinen morgendlichen Liegestützen, plärrte
und knallte mir seinen Schwanz ins Gesicht, so dass ich wütend wurde, mich groß
machte und einen großen Schrei los lies. Charly buckelte und flüchtete in die
Küche. Dann erst sah ich, dass die Schale tatsächlich leer war. Ich hatte es
einfach vergessen. Das tat mir unendlich leid. Ich machte das Ding wieder voll
und schob es ihm in die Küche. Nach einer Weile hörte ich, wie er sich darüber
hermachte. Eine viertel Stunde später lag er wieder schnurrend auf dem Sofa und
ließ sich von mir kraulen. Charly war nicht nachtragend, das hat er von mir.
Ein guter Kerl.
Ich mache mich wieder
an die Arbeit. Alles voller leerer Flaschen auf und unter dem Schreibtisch. Sie
rücken der Tastatur immer näher und ich muss vorsichtig sein, keine umzuwerfen,
wenn ich schreibe. Es ist ein bisschen wie Mikado. Zur linken Seite kann ich
durch das vom Staub und Vogelschiss trübe Fenster auf die Straße schauen. Da
ist der Drogeriemarkt und davor die Bushaltestelle voller Schulkids (fast hätte
ich Schuldkids geschrieben). Es ist jetzt 9 Uhr morgens und draußen regnet es
schon seit Mitternacht. Ich mag Regen in der Nacht, vor allem, wenn ich mich
irgendwo drinnen befinde. Es erzeugt eine natürliche Isolation und Ruhe. Das
Tageslicht gibt der Szene aber schon wieder etwas Trostloses. Wenn sie
wenigstens den Asphalt bunt anmalen würden. Ich sehe viele geschäftige Leute
mit Regenschirmen oder Händen über dem Kopf, die sich schnell bewegen, um nicht
noch nasser zu werden. Alle Schultern werden vom Asphalt angezogen; ein paar
von ihnen flüchten ins Café da Roberto mit den rot getönten Scheiben. Niemand
läuft hier wie ein Löwe. Sie sind fertig und sie merken es nicht, weil man
ihnen ihre täglichen Aufgaben zum Frass vorgeworfen hat. Was geht in ihnen vor?
Die junge Dame mit dem grünen Mantel ist vielleicht frisch verliebt, aber warum
ist sie nicht bei ihrem Liebsten, was ihr alles retten könnte? Der alte Mann,
dem seine Ledertasche gerade in eine dreckige Pfütze gleitet, hat vielleicht
gestern seine Krebsdiagnose bekommen, aber eifrig rennt er zu seinem Banktermin
oder ähnlichem. Der Bus kommt. Der Fahrer ist womöglich heute morgen aufgewacht
und seine Frau war weg, doch anstatt sich eine Machete zu besorgen und dem
Nebenbuhler die haarigen Hoden aus ihrer Vagina zu schneiden, lädt er die Schulkinder
ein um sie geografisch zu bewegen, aber sonst bewegt sich nichts. Jürgen wird
sich heute wieder ordentlich den Kopf über seine scheiß Schraube zerbrechen und
heute Nacht besaufen. Ich frage mich ehrlich, wo die Feder steckt, die das
ganze am Laufen hält. Man kann den ganzen Tag hinter sich bringen mit „Wie
geht’s?“ – „Muss“, - „Schlechten Menschen geht’s immer gut...“, begleitet von
den immer gleichen Songs, die sie im Radio spielen. Auch ich war einer von
ihnen. Warum machen die Menschen das? Ich sag euch eins: Es ist reine
Eitelkeit. Ein Brettspiel, auf das du zunächst keinen Bock hast. Dann erklärt
man dir die Regeln und vor allem, dass du gewinnen kannst, und du denkst: „Hey,
das krieg ich gebacken, da bin ich schlauer als die anderen.“ Und mit jedem
Zug, der dich einen Schritt vor die anderen setzt, fühlst du dich besser. Du
bist was wert, du bist kein Loser. Ein Hund hat auch besseres zu tun, als
Pfötchen zu geben und sich auf dem Boden zu rollen, aber wenn er sein
Leckerchen bekommt und die Ohren gekrault, ist das doch schon wieder was
anderes. Good job, diggah. Können alle ruhig das Haus und die Karre sehen. Wenn
du gewonnen hast, wirst du dich zurücklehnen und all die jungen Hühner in
deinem Pool bumsen und deine Erben sollen dabei deinen Phallus sehen, wie er
die untergehende Sonne verdunkelt. Sie werden ein Vorbild fürs Leben haben. Die
Sache ist nur, dass du nicht gewinnst. In Monopoly ist auch kein Exit
vorgesehen. Ha, sie haben dich verarscht? Leider ist es dann nur zu spät und
der nächste Schlaganfall oder Herzkasper wartet um die Ecke. Deinen Schwanz
wirst du dann auch nicht mehr so richtig benutzen können, außer die Sonne steht
schon sehr tief. Nein, no fucking way. Wenn ich die Jungs dick grinsend in ihren teuren Autos sehe,
kenne ich den Preis dafür und der besteht für die meisten, die keine Gs sind,
aus Überstunden, Schlafstörungen und Aderlass für die Probleme anderer. Es ist
es nicht wert. Schmidtchen, DAS war sein Schrei. Ein lautes, hässliches NEIN!
Das zu-spät-Erkennen, die UN-MÖGLICHKEIT seines Lebens, das sich durch seine
Luftröhre presste und für immer verschwand. Und mich schaudernd zurückließ.
Hier was zum Zitieren.
Leben: Mach es kurz
und schmerzvoll, aber mit DEINEN Schmerzen. Lass die Hölle zu und lass die
Liebe zu und du wirst ein paar Götter um dich haben, wenn alle Geschichten
erzählt sind oder du lachend von der Klippe springst.
Andererseits Tod:
Welcher Tod? Bis jetzt unsterblich, Baby. Darauf erst mal nen Schluck. Auf
Großes.
Was ist das? Ich
glaube ich höre Schritte im Treppenhaus. Bin gleich zurück.
09:20 Uhr. Das war
merkwürdig. Ich habe die Musik ausgemacht und an der Tür gelauscht. Ich höre
immer mal wieder meine Nachbarn, wenn sie den Müll runterbringen oder zur
Arbeit gehen, das bin ich gewohnt. Diesmal waren es jedoch schwere, bestimmte
Schritte. Fast wie jemand in Kampfstiefeln. Es hört sich an, als wäre er oder
sie fast ganz oben im Treppenhaus. Dann blieben die Stiefel abrupt stehen.
Durchs Schlüsselloch konnte ich aber niemanden sehen. Mein Herz raste. Plötzlich
marschierten sie in einem Heidentempo wieder nach unten, die Haustür knallte zu
und es war wieder still. Ich hab mir einen Whiskey eingeschenkt, um mich zu
beruhigen. Das Ganze passt mir so gar nicht in den Kram. Ich wägte die
Möglichkeit ab, dass man mir einen Auftragskiller auf den Hals gejagt hatte
weil ich nicht bei der Arbeit erschienen war, tat dies aber schließlich als
Blödsinn ab. Wahrscheinlich nur ein Handwerker, der zu Schmidtchen wollte oder
sowas. Die haben auch schwere Arbeitsstiefeln, das wusste ich, da ich mir nach
dem Studium selbst was als Bodenverleger dazuverdient hatte. Die Musik lasse
ich trotzdem erst mal aus.
16:11 Uhr. Im
Briefkasten liegt bestimmt schon meine Kündigung. Mit sowas sind die immer
schnell. Ich bin froh, dass ich das Telefon von der Leitung genommen habe, denn
mein Chef wird sich bestimmt verpflichtet gefühlt haben, ein oder zweimal
anzurufen, bis er mich zum Teufel wünschte. Charly hat gemerkt, dass ich vorhin
etwas nervös war und läuft jetzt unruhig in der Wohnung umher. Ich kann euch
gar nicht genau erzählen, was ich die letzten Stunden alles gemacht habe. Meine
täglichen Liegestütze, ja. Außerdem erinnere ich mich, dass ich sehr viel
getrunken habe und mein Gesicht im Spiegel untersucht habe, was mir im Nachhinein
wie eine Ewigkeit vorkommt. Ach ja, das ist wichtig: Als ich vor etwa einer
Stunde am Schreibtisch saß und IHREN Namen mit meinem Taschenmesser in die
Steinwand ritzte, sah ich wie der Schulbus angefahren kam, um die ganzen Kids
wieder abzuladen. Da waren ein paar gutgelaunte Gestalten dabei, zum größten
Teil die Jungs, die sich wohl auf ihre Playstations oder Gangbangs am späten
Nachmittag freuten, während sich die Mädchen in kleinen Grüppchen sammelten,
ihre langen Haare durch die Gegend warfen und sich in irgendeinem nichtigen
Gewäsch erschöpften. Vielleicht war es aber auch genau andersherum, heutzutage
weiß man ja nie so genau. Als sich die Menschentraube langsam auflöste, blieb
eine Gruppe von sieben oder acht von ihnen zurück, auch ein Mädchen war dabei.
Sie bildeten einen Halbkreis um den Laternenmast neben der Haltestelle, ein
paar schlugen sich die Hände aufs Knie und lachten wie die Bekloppten, ein paar
zogen ihre Handys und schienen zu filmen. Zwei Kerle drehten ab und verließen
die Szene, wodurch ich einen unverdeckten Blick auf den Laternenmast werfen
konnte. Ein dürrer Junge mit hässlich gelber Regenjacke und Baseballcap stand
dort wie am Marterpfahl, während ein anderer zu seinen Füßen kniete und ihm
offensichtlich die Schnürsenkel um den Mast band. Der Junge in der Regenjacke
schob die Arme nur halbherzig den Angreifern entgegen. Dabei lachte er, aber es
sah aus wie ein Lachen aus Scham, so als könnte er der Situation entkommen,
wenn er nur mitspielte. Natürlich klappte das nicht und als sie schließlich
fertig waren und alle ihre Fotos oder Videos gemacht hatten, verloren sie das
Interesse, steckten die Handys ein und machten sich zügig aus dem Staub. Zurück
blieb der arme Tropf, gefesselt und gedemütigt, mit dem erstarrten Lachen im knallroten
Gesicht. Das zu sehen machte mich unheimlich traurig, denn er sah nicht so aus,
als hätte er das verdient. Soweit ich das mitbekommen habe, hatten ihm nichts
weiter getan, nicht geschlagen oder bespuckt, aber das machte keinen
Unterschied. Es liefen ein paar Passanten vorbei, beachteten ihn gar nicht, und
es dauerte eine Weile, bis eine Frau ihn endlich losmachte und er mit seinem
Rucksack davon trotteten konnte. Schwäche, das ist der Killer und davon hatte
er wohl nun eine Portion mehr im Gepäck.
17:20 Uhr. Eigentlich
wollte ich um diese Uhrzeit in meinen Büchern lesen, aber ich sitze vor dem
Laptop und starre an die Wand. Diese ganzen Bücher, all diese großen
Schriftsteller. Wer soll das alles lesen? Ich denke, ich werde ein wenig
onanieren. Das halte ich im Moment für sinnvoller.
20:00 Uhr. Ich bin
müde. Meine Augenlider sind so schwer, so dass ich mit aller Kraft die Augen
verdrehe, um sie in Bewegung zu halten. Charly liegt neben seiner Schüssel in
der anderen Ecke des Raumes. Ich muss die Augen zusammenkneifen, um ihn scharf
zu sehen. Heute Nacht könnte es soweit sein, dass ich aufgebe, mich fallen
lasse. Es sind jetzt schon 5 Tage und meine Vorräte an Tabak, Alk und
Fitmachern gehen zur Neige. Ums Essen mache ich mir keine Sorgen, da ich eh keinen
Appetit mehr habe. Ich habe Charlies Napf mit Futter vollgemacht, für den Fall
dass ich die Nacht nicht überstehe. Aber warum schaut er mich so komisch an?
Was hat er für ein Problem, hat er Angst vor mir? So hat er mich noch nie
angesehen. Vielleicht hat er irgendetwas vor…. Ich traue ihm nicht. Besser ich
halte ihn mir vom Leib. Mein Körper ist im Herbst, ich bin hoffnungslos. Vor
allem schreibe ich hier nur Scheisse auf. Wo sind die Wörter hin…Wie schön wäre
etwas Abwechslung…Fernsehen, zum Beispiel. Nur ein bisschen. Nur um ein wenig
neuen Input zu bekommen und die Gedankenmaschine wieder anzuschmeissen. Aber
selbst die Musik traue ich mich nicht anzumachen, für den Fall, dass wieder
jemand vor der Tür steht. Ai Wei Wei hatte es leichter als ich. Keine
Scheinwerfer sind auf meine Existenz gerichtet. Niemand ist Zeuge. Und Charly
flechtet Intrigen und will die Zelle von innen heraus zerstören. Charly ist
eine Schraube.
Shit. Ich muss mich
zusammenreißen, ich halluziniere. Ganz klar aber sehe ich mein Problem, das was
schon immer da war, aber sobald ich es versuche zu greifen, in Gedanken zu
fassen, verschwimmt es. Wie alles hier. Ich bin ein Egoist, ich habe immer
Gefallen daran gefunden alles zu vernichten. Unterschwellig. Alles Gute was man
mir entgegen gebracht hatte, mein ganzes Leben lang, alles zersetzt. Sprünge,
von einem Herz zum anderen, und jedes einzelne ließ ich ausgetrocknet und still
zurück. Ich habe unsere Liebe zersetzt, unterschwellig. Zu feige gewesen, um
wild zu lieben. Zu wild gelebt, um Akzente zu setzen. Ich bin schuld. Schuld.
SCHULD. Welche Macht dieses Wort hat. FUCK. Ich nehme es dir nicht krumm, mich
verlassen zu haben. Ich wollte dich hier herauslassen, aber ich merke nun, du
bist der Grund, warum ich das alles hier veranstalte. Ich kann dich nicht mehr
aussparen. Ich weine, wie ich nie geweint habe. So schwach wie ich mich nun
fühle, so entschlossen bin ich, mich dir zu öffnen und dich mit ins Loch zu
nehmen. Ich habe mir den Laptop von meinem Schreibtisch auf die Couch geholt.
Es ist Zeit, zu schreiben. Nicht davor oder danach, sondern während es
passiert. „Live aus dem Loch“. Ich
ziehe eine Line, ziehe dein Bild aus meinem Geldbeutel und lehne es an die
letzte Whiskyflasche. Jetzt heißt es warten.
x. November.
Aufgewacht und
zutiefst verwundert über das, was hier auf dem Monitor steht. Ein Gedicht…Man
sollte mit Wörtern nicht spielen. Jedes Gedicht ist ein Ventil und verhindert
das Wesentliche, verhindert die Aktion.
Sie jagen mir Angst ein: Die Wörter, die wie Schläge kommen und mich
schwindelig machen. Das Gedicht ist eine Schraube. Ich muss es löschen.
Es ist hell draußen,
auf meinem T-Shirt hängt Speichel und ich habe keine Ahnung, was passiert ist.
Ich muss wohl die Flaschen auf dem Tisch abgeräumt haben, ein paar liegen auf
dem Boden in ihren eigenen Splittern. Am wahrscheinlichsten ist, dass ich
einfach eingeschlafen bin. Ich gehe zum Fenster und sehe an der Haltestelle
wieder die Schulkids stehen. Auch der Kerl mit der gelben Regenjacke ist unter
ihnen. Um ihn herum die gleichen Typen, die ihn festgebunden haben. Er lacht
verhalten über etwas, was sie sich dort erzählen. Vielleicht sogar die
Marterpfahlgeschichte. In meinem Kopf kreisen tausende Erinnerungen der letzten
Tage in einer chaotischen Achterbahn. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich weg
war, aber ich fühle mich einigermaßen erholt. Körperlich zumindest. Es könnten
Tage gewesen sein. Und die Essenz meiner ganzen Arbeit sollen diese Zeilen
gewesen sein?! Ich kann mich nur noch an ein verstörendes Gefühl erinnern, wohl
kurz bevor ich im Tunnel verschwunden bin. Ein Gedanke, dass das hier alles nur
ein Traum ist, eine Fiktion. Dass ich in Wirklichkeit noch mit ihr zusammen bin
und alle Zeit der Welt habe, es gut zu machen. Es ist enttäuschend. Ich erkläre
das Experiment für beendet.
Da fällt mir auf, dass
ich Charly gar nicht sehe. Wo ist der Kerl? Ich geh ihn mal suchen.
Charly ist weg. Die
Wohnungstür steht offen, also gehe ich davon aus, dass er abgehaut ist. Obwohl
ich mir nicht erklären kann, warum ich sie geöffnet haben sollte oder Charly.
An meinen Armen habe ich Kratzspuren entdeckt, ein paar Fellbüschel und ein
wenig Blut an der Wand vor der Tür. Er wird mich doch nicht im Moment meiner
Schwäche angefallen haben? Der Bastard. Sein Napf war immer noch randvoll. Als
ich das Nassfutter entsorgen wollte, bewegte es sich. Ich rieb mir die Augen,
aber ich bildete es mir nicht ein. Ich nahm einen Löffel und schob die Brocken
auseinander. Dann sah ich sie. Schrauben. Sie haben es hier herein geschafft.
Es waren unendlich viele und sie fraßen sich durch das Fleisch. Ich stieß einen
Schrei aus und warf den Napf in die Spüle. Ich knallte die Tür zur Küche zu. Es
gab noch einen winzigen Schluck Whisky. Das Bild von ihr sah ich nirgendwo.
Charly. Er hatte es geklaut. Ich ließ den Stoff langsam die Kehle herunter
tröpfeln und schloss die Augen.
Dann ging ich wieder
zum Fenster und schaute zur Haltestelle. Sie warteten immer noch auf den Bus.
Der Kerl in der Regenjacke. Er ist selbst schuld, er hat sich selbst zum Opfer
gemacht und wird es wieder und wieder tun. Er ist wie ich. Wie er mitspielt und
lacht. Ich hasse ihn. Er muss eine Lektion lernen. Wie es mit mir weitergeht,
wissen die Götter allein, aber es ist auch nicht wirklich wichtig. Es ist Zeit,
jemanden aufzuwecken. Mein Blick wandert zur offenen Haustür. Ich werde den
Laptop zuklappen und ein Gedicht schreiben, einen neuen Archetypen schaffen.
Mit meiner Faust. Ich bin die verfluchte Schraube.